Montag, 19. Juni 2017

Die erheiternde Geschichte des Paul Läufer - Kapitel 01 - Gerettet sei mein Leben

Leben ist eine Qual. Deswegen saß ich jetzt da, auf dem Rand eines Daches, herabschauend auf die noch immer viel befahrene Straße. Mitten in der Nacht, in dieser großen Stadt, herrschte noch überall Leben, nur nicht in mir. Es war 23:55 Uhr - Noch fünf Minuten wollte ich mir Zeit nehmen. Das Toben auf den Straßen, die ganzen Motoren, die Leute, die vor Trunkenheit laut durch die Straßen und Gassen brüllen, raubte mir noch meine letzte Ruhe, also hielt ich die Ohren zu. Es wurde ruhig. So ruhig. Ich konnte endlich meine Gedanken hören, wobei jeder von ihnen eigentlich nur noch das Gleiche sagte: "Bring dich um"
Ich stand auf. 23:59 Uhr. Ich schloss die Augen und begann langsam mich nach vorne zu beugen. Plötzlich packte mich jemand und zerrte mich von der Kante weg.
"Der Nächste, der springen will? Könnt ihr das nicht woanders machen?!", brüllte mich eine Frau an.
"Ich, also ... Was? Wieso haben Sie ..."
"Jetzt beruhig dich mal, Kindchen. Wenn du's so eilig mit 'm Sterben hast, dann mach's wenigstens woan'ers, wo's weniger Leute stört. Ich mein, stell dir vor, du wärst auf wen draufgefallen. Das hätt' 'er bestimmt nich' überlebt"
"Also ..."
Selbst im Tot hätte ich noch jemanden mitgerissen. Na super. Ich bin wirklich zu nichts zu gebrauchen.
Das Dach war einfach nur eine große Fläche mit einem kleinen Häuschen drauf, was einem zur Treppe des Hochhauses führte. Nur wir zwei waren da. Diese Frau hatte gerade mein Leben gerettet und ich stand nur stotternd da. Langsam bewegte ich meine Augen vom Boden nach oben. Zuerst sah ich blaue Flip-Flops, danach eine gelbe Jogginghose, anschließend ein bisschen bauchfrei, gefolgt von einer gelben Joggingjacke. Traute ich mich nun weiter und würde ihr ins Gesicht blicken? Ja, wenigstens einmal sollte ich diese Frau gesehen haben, dachte ich. Sommerflecken, eine kleine Stupsnase, blaue Augen, orangene Haare, die ihr gerade bis zum Hals reichten.
"Wer bist 'n du eigentlich?", fragte sie.
"Ich bin Paul. Und Sie?"
"Sieh mal einer an, du kannst ja doch sprechen. Ich bin Nadine. Also, was hast du für Sorgen?"
Ich erkannte es spätestens jetzt. Ich war nicht der Erste, der sich hier herunter stürzen wollen würde. Ich hatte die Vermutung, sie würde regelmäßig auf dem Dach nachsehen, ob jemand springen will.
"Ich bin nicht der Erste, oder?"
"Ganz bestimmt nicht. Mitternacht ist 'ne beliebte Zeit hier. Deswegen gehe ich jede Nacht hier nachsehen, ob es nicht schon wieder irgend'n Vollidiot versucht. Heute bist du hier. Also, was is' los?"
"Nun ..."
Es ist Zeit, meine Lebensgeschichte zu erzählen.


Paul Läufer, 18 Jahre alt und lebensmüde. Mit 17 eine Ausbildung im Handwerk begonnen und kein Stück glücklich damit. Zwei Eltern, die sich regelmäßig streiten und mich nicht bei meinem Traum unterstützen wollen - Filme machen. Seit ich 10 bin, laufe ich mit einer Kamera durch die Straßen und Wälder und filme drauf los. Von Kreativität halten meine Eltern nur nicht viel und aufgrund miserabler Noten sitze ich im Handwerk, weil's ja sonst kein Spinner mehr machen will. Ich quäle mich jeden Tag nur ab. Eigentlich hatte ich schon längst keine Lust mehr. Nach dem Abgang nach der Zehnten habe ich auch niemanden mehr, den ich als Freund bezeichnen würde. Es ist langweilig geworden. Ich sitze jeden Tag nur vor dem PC, weil ich keine Ahnung habe, was ich sonst tun soll. Und Interesse kann ich auch für nichts aufbringen. Ich mag kein Sport und andere Hobbys sind auch einfach nur noch anstrengend. Deswegen beschloss ich, mein Leben zu beenden.

"Ah, die Ausbildung, die du nicht willst, die Eltern, die dich nicht lieben - alles schon gehört. Aber sag ma', Handwerk? Du kommst nicht wirklich von hier, was?"
"Nein. Ich hab mir diese Woche Urlaub genommen und bin extra nach Hamburg gefahren, weil ich mir ziemlich sicher war, hier wäre ein Gebäude hoch genug für einen schnellen Aufprall"
"Interessant. Bin noch nie jemandem von außerhalb begegnet, der sich hier umbringen wollte"
"Soll ich mich jetzt geehrt fühlen?"
"Für kleine Späße bist'e also noch zu haben. Du hast bestimmt keine Unterkunft für die Nacht, oder?"
"Nein. War ja immerhin nicht eingeplant"
"Willst du immer noch springen?"
"Morgen vielleicht?"
"Tz. Komm mit. In meiner Wohnung ist genug Platz"
"In deiner Wohnung?"
Sie seufzte. "Schüchtern?"
"Nein. Schon gut. Ich komme ja schon"

Eine wahrlich große Wohnung. Eine Fensterwand, mit der man nach draußen schauen konnte. Ein großes Wohnzimmer mit einem Flatscreen an der Wand und einer Couch und einem Sessel davor, dazwischen ein kleiner Kaffeetisch. Direkt daran angeschlossen war die Küche. Klein, aber fein. Eine Theke trennte Wohnzimmer und Küche.
"Du kannst auf der Couch schlafen. Das Bad ist da hinten", sie zeigte in einen Flur, der neben der Küche war, "Und gleich dahinter ist mein Schlafzimmer. Das ist Tabu, verstanden?"
"Ja, klar"
"Gut. Also, bist du eher 'n Nachtmensch oder fängst lieber frühs den Wurm?"
"Na ja, Handwerker hier, also im Prinzip bin ich gezwungener Frühaufsteher. Aber ich bleibe eigentlich lieber lange auf"
"Fantastisch, ich auch. Du hast vorhin erzählt, du würdest gerne Filme machen, richtig? Lust auf 'nen Film?"
"Ähm, warum nicht?"
Sie war überraschend entgegenkommend. In diesem Augenblick war ich ein wenig glücklich, dass sie es war, die mein Leben rettete.

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